Interview von Lydia Mutsch im Luxemburger Wort

Lydia Mutsch: "Es soll nicht nur um Frauen gehen."

Interview: Luxemburger Wort (Bérengère Beffort)

Bérengère Beffort: Wieso braucht Luxemburg ein eigenständiges Chancengleichheitsministerium? Die Gleichstellung von Mann und Frau müsste doch in allen politischen Ressorts selbstverständlich sein?

Lydia Mutsch: Ich würde mir wünschen, dass es so selbstverständlich ist. Allerdings: Auch wenn die Chancengleichheit in unserem Grundgesetz verankert ist, und wir keine Gesetze zu Ungunsten eines Geschlechts haben, ist die Gleichstellung im Alltag nicht überall Realität. Hier sind alle aufgefordert, mitzuwirken. Für den nationalen Aktionsplan habe ich die einzelnen Ministerien aufgerufen, ihre Lösungsansätze zu unterbreiten. So kann keiner behaupten: "Das Chancenministerium nervt und verlangt etwas von uns." Alle stehen in der Verantwortung. Und das Ergebnis stimmt: 85 Prozent der 104 Maßnahmen wurden bereits erreicht oder sind auf gutem Weg ...

Bérengère Beffort: Woran machen Sie die Fortschritte fest?

Lydia Mutsch: Besonders an der verbesserten Teilhabe von Frauen in Führungspositionen. In den Verwaltungsräten von insgesamt 95 öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, wirtschaftlichen Interessengruppierungen (GIE) und Betrieben mit staatlicher Beteiligung sind nun deutlich mehr Frauen vertreten. Denn wir setzen uns als Regierung für eine bewusstere Beförderung ein. So ist der Anteil an Frauen zwischen Januar 2015 und Juni 2017 von 21,7 auf 26,7 Prozent angestiegen. Als Regierung haben wir in rund 37 Prozent der Fälle eine Frau ernannt. Insgesamt streben wir 40 Prozent Frauen in Führungspositionen für 2019 an. Nun entscheidet der Staat nicht immer selbst, und so müssen wir andere Anteilseigner dazu antreiben, mehr weibliche Kandidaten für Vorstände zu berücksichtigen.

Bérengère Beffort: Reicht das aus? Sollte es nicht auch eine entsprechende Betriebskultur in den Chefetagen geben, damit mehr Frauen eine Karriere für Spitzenposten aufbauen können?

Lydia Mutsch: Gerade deshalb setzt unsere Arbeit an verschiedenen Stellen an. Mit den "actions positives" regen wir eine Kultur für Chancengleichheit an. Rund 100 Unternehmen beteiligen sich zurzeit am Programm. Im Rahmen eines Labels fördern und begleiten wir Unternehmen, die sich verbindliche Zielvorgaben auferlegen. Diese Ziele müssen innerbalb einer bestimmten Zeitspanne eingelöst und von uns geprüft werden können. So sollen Frauen darin bestärkt werden, Führungspositionen zu übernehmen. Dabei geht es auch darum, dass sich ein Betrieb einer Work-Life-Balance, sprich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bewusst ist, und sowohl seinen weiblichen als auch männlichen Beschäftigten flexible Arbeitsmöglichkeiten anbietet. Was das Einkommen betrifft, stellen wir den Unternehmen ein kostenloses Programm zur Verfügung, das das Lohngefälle misst. So können Ungleichheiten festgestellt und behoben werden. Denn eine Entgeltlücke ist kein Kavaliersdelikt. Im neuen Gesetz haben wir Geldstrafen vorgesehen, wenn aufgrund des Geschlechts für eine gleiche Arbeit niedrigere Löhne ausgezahlt werden.

Bérengère Beffort: Wenn Unternehmen auf ein externes Instrument zurückgreifen können, um eventuelle Lohngefälle festzustellen, dann scheint man davon auszugehen, dass die ungleiche Behandlung unbewusst passiert ...

Lydia Mutsch: Wie aus Gesprächen hervorgeht, sind sich die Arbeitgeber nicht bewusst, dass in ihrem Betrieb Lohnunterschiede zwischen weiblichen und männlichen Angestellten vorherrschen könnten.

Bérengère Beffort: Wie kann das sein?

Lydia Mutsch: Oft haben sich Prozeduren verselbstständigt, es fehlt an einem Gesamtüberblick, oder es wurden in einzelnen Abteilungen Entscheidungen getroffen, die zu Lohnunterschieden führten. Ich bin der Überzeugung, dass die meisten Betriebschefs die Ungleichheiten nicht einfach hinnehmen würden. Ich unterstelle den Arbeitgebern also nicht, dass sie wissentlich Ungleichheiten betreiben. Wichtig ist, dass es zu einem Bewusstsein kommt und Änderungen vorgenommen werden. Der Einkommensabstand liegt in Luxemburg übrigens bei rund acht Prozent. Das ist weniger als im Ausland, wo Mitarbeiterinnen für den gleichen Job bis zu 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen.

Bérengère Beffort: Aber wie können die Lohnungleichheiten wuchern, ohne dass es auffällt?

Lydia Mutsch: Im öffentlichen Dienst ist das System äußerst transparent. Die Entwicklung der Karrieren ist ganz klar gegliedert. In der Privatwirtschaft scheint es weniger einfach. Entgeltlücken sind zum Beispiel auf Karrierepausen zurückzuführen, wenn Frauen ihre Arbeit aus familiären Gründen unterbrochen oder reduziert haben. Außerdem haben Frauen oftmals eine weniger fordernde Haltung, sie beantragen weniger Lohnerhöhungen. Die Anpassungen erfolgen dann nicht. Mit dem neuen Gesetz wollen wir also ein Bewusstsein anregen. Die Betriebe sind unsere Partner, und ich bin der Auffassung, dass wir gemeinsame Interessen an einer modernen Betriebskultur haben.

Bérengère Beffort: Die Vorgehensweise des Ministeriums setzt auf guten Willen. Inwiefern beruhen die Ungleichheiten auch auf tradierten gesellschaftlichen Rollenbildern und paternalistischen Denkmustern?

Lydia Mutsch: Wenn wir über Lohnunterschiede sprechen, dann liegt oft die Diskussion über Stereotypen nahe. Ganz so einfach ist es aber nicht. Wir brauchen verschiedene Maßnahmen, wenn wir ein Umdenken herbeiführen wollen. Das fängt in den Schulen an, wo wir Kleinkindern zeigen, dass ihnen sehr viele Berufe zur Auswahl stehen – ganz unabhängig vom Geschlecht. Wir stellen fest: Kleinkinder fühlen sich nicht eingeschränkt. Sie setzen sich keine Grenzen. Doch späterhin in der Pubertät, verbringen junge Männer mehr Zeit vor dem Computer, und interessieren sich für technische Bereiche. Mädchen lackieren sich die Nägel und interessieren sich für modische Attribute. So sind auch junge Leute von Stereotypen beeinflusst.

Bérengère Beffort: Also keine Entmündigung einer älteren Generation?

Lydia Mutsch: Die zu führenden Überlegungen gehen weit über das Thema Paternalismus hinaus. Traditionelle Denkmuster sind hier einer von vielen Aspekten. Rollenbilder über angeblich männlich oder weibliche Berufe führen auch nicht zwingend zu schlechteren Lohnbedingungen. In Luxemburg gehen Berufe im Sozial- und Bildungswesen, in denen viele Frauen arbeiten, oftmals mit guten Einkommen einher. Mehr Chancengleichheit verlangt also eine differenzierte Vorgehensweise an vielen Stellen.

Bérengère Beffort: Dann geht es also darum, wie man sich mit einer Norm auseinandersetzt?

Lydia Mutsch: Wir wollen uns als Ministerium für Chancengleichheit auch mit der Rolle des Mannes auseinandersetzen. Es soll nicht nur um Frauen gehen. Uns geht es darum, dass unabhängig vom Geschlecht jeder Mensch einen Job im Sozialbereich oder in einem technischen Bereich anstreben kann und sich auch dort entfalten kann. Diese Diskussion möchten wir führen.

Bérengère Beffort: Wieso sollte das Bild vermittelt werden, dass auch Männer soziale Berufe ergreifen können, wenn es eigentlich auf die Fachkompetenzen ankommt, und gerade eben nicht auf geschlechtsstereotypische Vorstellungen?

Lydia Mutsch: Ich denke, dass es für die Kinder ganz gut wäre, wenn sie in den Tagesstätten, in den Schulen, nicht nur weibliche Bezugspersonen haben ...

Bérengère Beffort: ... Das tendiert zur Annahme, dass Männer und Frauen nicht die gleichen Eigenschaften haben und sich eher ergänzen?

Lydia Mutsch: Ich glaube nicht, dass Frauen die besseren Männer sind, und auch nicht umgekehrt. Durch die Erziehung, durch die Lebenserfahrungen, haben Frauen und Männer andere Ansichten und Vorgehensweisen. Sie ergänzen sich. Gemischte Teams sind für ein Unternehmen, und für die Gesellschaft insgesamt, gewinnbringend. Weil ein Mix der Kompetitivität und Kreativität zugutekommt. Im Sozialsektor sind verschiedene Handlungsweisen – zum Beispiel bei der Bewältigung von Konfliktsituationen – von Vorteil. Die Frage, ob unterschiedliche Reaktionen nun angeboren oder anerzogen sind, würde den Rahmen dieses Gesprächs sprengen. Tatsache ist, dass sich die verschiedenen Standpunkte ideal ergänzen. Deshalb finde ich es schade, wenn sich die Politik für Chancengleichheit lediglich auf die Frauen fokussiert. Manche sagen: "Bestärkt die Frauen, beziehen Sie sie mehr ein..." Und natürlich ist das wichtig. Aber es reicht nicht aus. Es ist ebenso wichtig zu sagen, dass Chancengleichheit auch Männer betrifft. Nur so schaffen wir einen Mentalitätswandel.

Bérengère Beffort: Wieso hat sich das Ministerium bei der Werbekampagne "Votez égalité", die mehr Frauen in die kommunale Verantwortung hieven soll, für eine Form und Motive entschieden, die letztlich Klischees befördern? Viele Leute haben sich über die Kampagne geärgert ...

Lydia Mutsch: Eine klassische Werbeform besteht gerade darin, Klischees aufzugreifen, und sie dann zu hinterfragen. Mir geht es darum, ein Klischee zu thematisieren, um dieses besser zu bekämpfen. So ist die Kampagne zu verstehen. Dass man bestimmte Attribute aufgreift, um ein Geschlecht zu veranschaulichen, muss meiner Meinung nach auch erlaubt sein. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass wir unlängst eine ähnlich gelagerte Diskussion hatten, bei der die LSAP eine Handtasche in den Fokus stellte. Die meisten Frauen tragen halt eine Handtasche, und diese Assoziierung ist für mich nicht diskriminierend. Äußerlichkeiten sagen nichts über Kompetenzen aus. Wenn wir also sagen, dass das politische Kostüm den Männern und Frauen passt, und entsprechende Bilder verwenden, dann knüpfen wir an ein Klischee über Männer im Anzügen an, um dieses besser zerstreuen zu können.

Bérengère Beffort: Glauben Sie, dass dieses "um-die-Ecke-denken" wirklich von den Wählern und Kandidatinnen verstanden wurde?

Lydia Mutsch: Ja. Die eine oder andere Person mag zunächst etwas überrascht gewesen sein, aber wir konnten gut erklären und vermitteln, worauf es ankommt. Die Kampagne beruht übrigens auch auf Aussagen von 47 prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sie treten mit ihrer Botschaft für ein besseres Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen in den politischen Ämtern ein.

Bérengère Beffort: Doch auch diese Botschaften ernteten zum Teil Spott. Weil sie als Floskel oder als zu normativ gewertet wurden ...

Lydia Mutsch: Als Ministerium wollten wir die Aussagen nicht beeinflussen. Die Teilnehmer sollten ihre persönlichen und individuellen Beweggründe für die Gleichheit zwischen Frauen und Männern in der Politik anführen können. Und das ist auch gut so. Es wäre vermessen, mit erhobenem Zeigefinger zu beurteilen. Gerade die Vielfalt an Botschaften signalisiert den gemeinsamen Willen für einen Mentalitätswandel. Nicht jeder mag eine politische Quote für gut befinden, und dennoch sind sich viele einig, sich für ein übergeordnetes Ziel einzubringen.

Bérengère Beffort: Wieso muss die Teilnahme von Frauen gerechtfertigt werden? Und das auch noch mit Äußerlichkeiten?

Lydia Mutsch: Wir reduzieren niemanden auf äußerliche Attribute. Wir versuchen die Menschen zu erreichen und auf Klischees aufmerksam zu machen. In einer rezenten Umfrage haben wir Frauen befragt, wieso sie sich nicht politisch engagieren. Die Frauen sagten keinesfalls, dass sie sich lieber um den Haushalt kümmern würden. Sie meinten auch nicht, dass die Politik eine reine Männerdomäne sei. Frauen sagen eher: "Ich finde es gut, wenn sich Frauen politisch einbringen. Persönlich traue ich mich allerdings nicht." Das ist leider eine klassische Selbstunterschätzung. Und gerade deshalb müssen wir Kandidatinnen Mut machen. Wenn mehr Frauen Führungspositionen in der Politik und Wirtschaft belegen, wird das im Einklang mit der Realität unserer Gesellschaft sein. Frauen stellen halt die Hälfte der Bevölkerung.

Bérengère Beffort: Wie viele Frauen haben sich zum jetzigen Zeitpunkt als Kandidatin für die Gemeindewahlen am 8. Oktober gemeldet?

Lydia Mutsch: Das Observatoire des nationalen Frauenrats geht auf Basis der aktuell vorliegenden Listen von einer Beteiligung von 39 Prozent Kandidatinnen aus. An den vorherigen Gemeindewahlen hatten sich 32,1 Prozent Frauen zur Wahl gestellt. Das wäre in einer Zeitspanne von sechs Jahren schon eine erhebliche Verbesserung. Die definitiven Ergebnisse können noch leicht schwanken, weil nicht alle Parteien und Gemeinden ihre Listen veröffentlicht haben. Und natürlich entscheiden die Wähler, wie viele Frauen letztlich die Kommunalpolitik mitbestimmen werden. Zurzeit zählt Luxemburg 13 Bürgermeisterinnen in 105 Gemeinden, und rund 23 Prozent der Gemeinderäte sind weiblich. Da ist noch viel Luft nach oben. Jede Person sollte das Gefühl bekommen, dass sie erreichen kann, was sie will.

Bérengère Beffort: Für seine hehren Ziele verfügt das Ministerium über ein recht kleines Budget. Im Staatshaushalt sind es knapp 15,4 Millionen Euro ...

Lydia Mutsch: ... und diese budgetären Mittel kommen größtenteils der Unterstützung von Vereinigungen zugute. Für die Verwaltungs- und Sensibilisierungsarbeit bleiben uns im Schnitt zwei Millionen Euro übrig. Ein Teil der Gelder fließt auch in die Weiterbildung von Delegierten. Wir sind als kleine Mannschaft schon stark beansprucht, weil Chancengleichheit ein übergreifendes Thema ist. Vielleicht wird eines Tages kein eigenständiges Ministerium für Chancengleichheit mehr vonnöten sein. Aber bis auf Weiteres sollten wir die Ärmel hochkrempeln.

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